Volkstrauertag 2025 in Römerberg

Ist das noch zeitgemäß?

Volkstrauertag 2025 in Römerberg

Am Sonntag, dem 16. November, beging Deutschland den Volkstrauertag. Dieser stille Feiertag ist geprägt von der Abwesenheit von Sport- und Tanzveranstaltungen und vor öffentlichen Gebäuden weht die Trauerbeflaggung. An Mahnmalen für die Opfer von Krieg und Gewalt, die im Volksmund oft als „Kriegerdenkmäler“ bezeichnet werden, versammeln sich Menschen zu Gedenkveranstaltungen. Doch die Teilnehmerzahlen nehmen stetig ab. Bei der zentralen Veranstaltung in Römerberg waren am Sonntag lediglich 50 Personen anwesend. Wenn man den Musikverein, die Pfarrerin und den Pfarrer sowie die Vertreter des Ortskartells und des Gemeinderats abzieht, bleiben nur noch 25 Bürgerinnen und Bürger aus einer Gemeinde mit 10.000 Einwohnern übrig. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass der Volkstrauertag möglicherweise nicht mehr zeitgemäß ist.

Ich sehe das jedoch anders. Wenn wir beim Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege zurückblicken, ist es verständlich, dass es vielen schwerfällt, einen Bezug zu ihrem Leben in der Gegenwart herzustellen – gerade 80 Jahre nach dem Ende des Krieges. Doch Krieg und Gewalt haben seit dem Ende der Weltkriege nie aufgehört. Und wem verdanken wir 80 Jahre Frieden in Deutschland? Unserer Demokratie.

Nach 80 Jahren Frieden betrachten viele unsere demokratischen Werte als selbstverständlich. Doch das ist leider nicht der Fall. Unsere Demokratie ist in Gefahr. Daher stellt eine Gedenkveranstaltung am Volkstrauertag auch eine Mahnung dar, unsere Demokratie zu schützen und uns gegen Krieg und Gewalt zu positionieren.
Als Bürgermeister ist es mir ein persönliches Anliegen für unsere Demokratie einzutreten und mich klar gegen Krieg und Gewalt zu stellen.

Daher können Sie hier meine Rede von Sonntag nachlesen:

Rede zum Volkstrauertag 2025

Matthias Hoffmann - Bürgermeister der Gemeinde Römerberg

„80 Jahre Kriegsende – Mahnung aus der Vergangenheit, Auftrag für die Zukunft“

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

verehrte Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen, Vereine und Institutionen, liebe Gäste,

wir stehen heute hier zusammen, um am Volkstrauertag der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Dieser Tag ist jedes Jahr ein Moment des Innehaltens – ein Moment, in dem wir uns unserer Geschichte stellen, aber auch unserer Verantwortung in der Gegenwart.

In diesem Jahr hat dieser Tag eine besonders tiefe Bedeutung: Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, ein Konflikt, der die Welt in ein nie dagewesenes Ausmaß an Leid, Zerstörung und menschlicher Tragödie gestürzt hat.

1. 80 Jahre Kriegsende – ein historischer Wendepunkt

Vor acht Jahrzehnten schwiegen endlich die Waffen. In Europa, in einem zerstörten, traumatisierten Kontinent, begann ein langer, steiniger Weg – der Weg zurück zur Menschlichkeit, zur Demokratie, zu einem friedlichen Miteinander.

Auch hier in unserer Region, auch hier in Römerberg, haben Menschen das Kriegsende nicht einfach als Datum erlebt, sondern als einschneidendes Ereignis ihres Lebens.

Da waren die Väter, die im Krieg gefallen sind und nie mehr zurückkehrten.

Da waren die Frauen, die als Trümmerfrauen, als Mütter und Alleinverdienerinnen ihre Familien und ihr Land wieder aufgebaut haben.

Da waren Kinder, die früh zu Erwachsenen werden mussten – auf der Flucht, in Lagern, in zerstörten Städten und Dörfern.

Auch für meine Familie war 1945 der Beginn der Flucht aus ihrer Heimat in Schlesien. Eine Heimat in die sie nie mehr zurückkehren durften.

Wir gedenken heute ihrer aller.

Wir gedenken der Soldaten, die starben.

Wir gedenken der zivilen Opfer von Bombennächten, Verfolgung und Vertreibung.

Wir gedenken der Menschen, die ermordet wurden, weil sie Juden waren, weil sie anders dachten, anders glaubten, anders liebten oder einfach nicht in das Weltbild einer grausamen Ideologie passten.

Und wir erinnern uns heute daran:

Der Frieden, den wir seit 80 Jahren in Deutschland genießen, ist keine Selbstverständlichkeit.

Er wurde mühsam aufgebaut – und er wurde uns geschenkt durch die Versöhnungsbereitschaft ehemaliger Gegner, durch den Mut von Demokratinnen und Demokraten und durch eine Gesellschaft, die sagte: Nie wieder.

2. Die Lehren aus 1945 – und ihre Bedeutung heute

Die Generation, die den Krieg selbst erlebt hat, wird immer kleiner. Viele von uns kennen die Geschichten nur noch von den Großeltern oder aus Büchern. Doch gerade jetzt, in einer Zeit neuer Konflikte, müssen wir uns bewusst machen, wie schnell Frieden gefährdet ist.

Nach 1945 entstand in Europa ein Einverständnis, das man fast als Wunder bezeichnen kann:

Ein Einverständnis, dass Konflikte politisch gelöst werden müssen – nicht mit Waffen.

Ein Einverständnis, dass Menschenrechte universell gelten.

Ein Einverständnis, dass Demokratie geschützt werden muss.

Heute beobachten wir weltweit, aber auch in Europa, wie sich diese Grundüberzeugungen wieder erodieren, wie Schritt für Schritt verdrängt werden.

• Nationale Egoismen wachsen.

• Propaganda ersetzt Fakten.

• Misstrauen ersetzt Dialog.

• Und gewaltsame Konflikte kehren zurück.

Der Blick in die Geschichte zeigt uns:

Krieg beginnt nicht mit dem ersten Schuss.

Krieg beginnt lange vorher –

mit der Verrohung der Sprache,

mit Feindbildern,

mit dem Verlust von Respekt.

3. Die Ukraine – Krieg mitten in Europa

Besonders deutlich erleben wir diese bittere Realität seit dem Februar 2022 – seit Russland die Ukraine angegriffen hat.

Seit mehr als dreieinhalb Jahren herrscht wieder Krieg in Europa.

Wieder sterben Menschen in ihren Häusern.

Wieder flüchten Familien, verlieren Kinder ihre Väter,

verlieren Städte ihre Zukunft.

Über 15 Millionen Menschen mussten fliehen – viele auch zu uns nach Deutschland, auch in unsere Gemeinde. Sie sind hier, weil sie Schutz suchen, weil sie Frieden suchen.

Und wir wissen:

Sie sind nicht freiwillig hier. Sie würden lieber in ihrer Heimat leben.

Dieser Krieg ist nicht irgendetwas Abstraktes.
Er betrifft uns alle, nicht nur politisch oder wirtschaftlich, sondern menschlich.

Er zeigt uns, wie zerbrechlich Frieden ist – selbst auf unserem Kontinent.

Viele Menschen fragen sich:

Wie konnte das passieren – 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs?

Die Antwort ist bitter:

Weil Demokratie und Freiheit nie selbstverständlich sind.

Weil Machtpolitik und Gewaltbereitschaft nie vollständig verschwinden.

Weil es immer Menschen geben wird, die Frieden für Schwäche halten – und Gewalt für ein legitimes Mittel.

Der Krieg in der Ukraine erinnert uns an das, was wir nach 1945 gelernt haben sollten:

Frieden braucht Verteidigung – politisch, diplomatisch, gesellschaftlich und manchmal leider auch militärisch.

4. Die weltpolitische Lage – Unruhe an vielen Fronten

Und die Ukraine ist nicht das einzige Beispiel.

Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten.

Konflikte brechen an vielen Stellen auf:

– im Nahen Osten,

– im Südkaukasus,

– in Afrika,

– in Asien.

Wir erleben:

Machtblöcke formieren sich neu. Internationale Verträge verlieren an Bedeutung.

Grenzen, die lange als sicher galten, werden infrage gestellt.

Digitale Desinformation vergiftet Debatten.

Demokratische Werte geraten unter Druck.

Für uns als Gesellschaft bedeutet das:

Wir dürfen nicht schweigen. Wir dürfen nicht resignieren.

Wir müssen aktiv für Frieden eintreten – im Großen wie im Kleinen.

Das beginnt damit, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst werden:

in unserem Umgang miteinander,

in der Art, wie wir sprechen,

wie wir über andere denken,

wie wir über Politik diskutieren.

Frieden beginnt nicht am Konferenztisch der Weltmächte.

Frieden beginnt im Herzen jedes Einzelnen.

Frieden beginnt hier – in unserer Gemeinde, in Römerberg.

5. Verantwortung für heute und morgen

Wenn wir heute der Toten gedenken, tun wir das nicht nur mit Trauer.

Wir tun es auch mit der Verpflichtung, ihr Vermächtnis weiterzutragen.

Wir fragen uns:

Was können wir tun – als Menschen, als Bürgerinnen und Bürger, als Gemeinde?

Ich möchte drei Dinge hervorheben:

1. Erinnern und Aufklären

Die Erinnerungen an Krieg, Diktatur und Unfreiheit dürfen nicht verblassen.

Je weniger Zeitzeugen wir haben, desto wichtiger werden Geschichtsunterricht, Gedenkstätten, Gespräche mit Überlebenden aufzeichnen, Vereinsarbeit, kirchliches Engagement.

Wir müssen jungen Menschen erklären, warum Demokratie wertvoll ist – und warum sie ohne Engagement zerfällt.

2. Haltung zeigen

Gegen Ausgrenzung.

Gegen Extremismus.

Gegen Menschenverachtung.

Demokratie ist nicht nur ein Recht – sie ist auch eine tägliche Aufgabe.

Sie braucht Menschen, die aufstehen, wenn andere schweigen.

3. Menschlichkeit leben

Das betrifft unseren Umgang mit Geflüchteten, mit Schwächeren, mit Menschen, die Unterstützung brauchen.

Menschlichkeit ist kein abstraktes Ideal, sondern gelebte Nachbarschaft.

Viele Menschen aus der Ukraine haben hier in Römerberg eine neue Heimat auf Zeit gefunden.

Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, dass sie willkommen sind – nicht weil wir müssen, sondern weil es richtig ist.

6. Das Gedenken heute – eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft

Der Volkstrauertag verbindet zwei Welten:

die Erinnerung und die Verantwortung.

Wir erinnern uns an das Leid der Vergangenheit –

und wir übernehmen Verantwortung dafür, dass sich solche Abgründe nicht wiederholen.

Wir gedenken heute der Millionen Opfer von Gewalt, Tyrannei und Krieg.

Wir gedenken derer, die für Freiheit gekämpft haben,
und derer, die einfach nur gelebt haben – und in die Mühlen der Gewalt geraten sind.

Wir gedenken auch der Menschen, die heute in Kriegen sterben – in der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Orten der Welt.

Unser Gedenken soll keine Resignation sein.

Unser Gedenken soll ein Auftrag sein:

für Frieden, für Freiheit, für Menschlichkeit.

7. Schlusswort

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

Volkstrauertag ist kein Tag des Wegschauens.

Es ist ein Tag des Hinschauens.

Ein Tag, an dem wir gemeinsam erkennen, wie wichtig Frieden für unser Leben ist.

Ein Tag, an dem wir uns bewusst machen, wie fragil Frieden ist – und wie sehr wir ihn schützen müssen.

80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen wir in Deutschland in Freiheit, in Wohlstand und in Sicherheit.

Das ist ein Geschenk – und zugleich eine Verpflichtung.

Mögen wir dieses Geschenk bewahren.

Mögen wir aus der Geschichte lernen.

Mögen wir den Mut haben, für den Frieden einzutreten – in unserem Ort, in unserem Land, in unserer Welt.

Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, für Ihr Mitfühlen und Ihr Mittragen dieses wichtigen Tages.